Briefe in die chinesische Vergangenheit by Rosendorfer Herbert

Briefe in die chinesische Vergangenheit by Rosendorfer Herbert

Autor:Rosendorfer, Herbert [Rosendorfer, Herbert]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-08-26T17:00:00+00:00


Zwanzigster Brief

(Sonntag, 20. Oktober)

Teurer Freund Dji-gu.

Es ist nun endgültig Herbst geworden. Die Blätter verfärben sich. Heute haben wir den ersten Herbst-Neumond. Kein Mensch bei den Großnasen kümmert sich um so etwas. Als ich es der Dame Pao-leng sagte, antwortete sie nur: »Ach so?« Die Großnasen haben nicht nur den Zusammenhang mit den Dingen verloren, sie haben sogar den Sinn für die Notwendigkeit des Zusammenhanges verloren, daher empfinden sie ihre Unordnung nicht als Unordnung.

Da könnte man sich fragen – wenn man nach Art der Großnasen dächte, die alles immer hin und her wenden, so wie sie auch ständig hin und her rennen –: ist es dann nicht eben gut, wenn sie schon in Unordnung leben, daß sie diese Unordnung wenigstens nicht als solche empfinden? Ist nicht Unordnung, die man nicht als solche empfindet, Ordnung?

Eine Großnase – sofern sie überhaupt so weit denkt – würde nicht anstehen, diese Fragen zu bejahen. Das kommt aber daher, daß sie den Zusammenhang mit den Dingen verloren haben und daß sie die Kenntnis der Zusammenhänge durch die Bedeutung ihrer Person, die sie für groß halten, ersetzen. Wir, liebster Freund, aber wem sage ich das, haben dank der Lehren des weisen K’ung-fu-tzu und seiner Schüler eine festgefügte Kenntnis vom runden Himmel und der viereckigen Erde, vom Dunklen und vom Lichten, von den fünf Himmelsrichtungen, den vier Jahreszeiten und den fünf Getreidearten. Unsere Welt ist untadelig in ihrem Aufbau, wie ein ordentliches Gebälk gezimmert, und alles stimmt, wenn wir uns an die Gegebenheiten halten. Und wenn wir wissen wollen, was die Wahrheit ist, brauchen wir uns nur in das unsterbliche ›Lun Yü‹ vertiefen oder in das ›Li Chi‹.

Ohne jeden Zweifel ist auch unsere Welt nicht immer in Ordnung gewesen. Das wissen wir, die Angehörigen unserer Generation, nur zu gut, da wir alt genug sind, um die entsetzlichen und abstoßenden Greuel der Kriege in der Zeit der Fünf Dynastien erlebt zu haben, von denen uns erst der leider viel zu früh verewigte Erhabene Begründer unserer Dynastie befreit hat. Aber worauf waren diese Greuel, diese Bürgerkriege, zurückzuführen? Auf Unordnung. Darauf, daß die alten Riten und Bräuche nicht mehr eingehalten wurden, daß man die Belehrung des Volkes nicht mehr für wichtig hielt, daß der jüngere Bruder nicht mehr dem älteren diente, daß Kindesehrfurcht weitgehend verlorenging und daß die Fürsten nicht mehr die Würdigsten zu Kanzlern, Großschreibern, Geheimschreibern und Mandarinen erhoben haben, sondern diejenigen, die am lautesten schrien. Daß der alberne Buddhismus an der Unordnung mit schuld war, daran hast Du so wenig Zweifel wie ich.

Aber ich will hier nicht über die dumme und törichte und vor allem primitive Lehre dieses Buddha reden, die unser Volk leider seit fünfhundert Jahren vergiftet und offenbar nicht auszurotten ist.

Es war ganz klar, unter diesen Umständen, daß, wenn der Mechanismus, der zwischen Himmel und Erde besteht, vernachlässigt wird, das nicht ohne Folgen bleiben würde. Die Flüsse traten über die Ufer, das Getreide wuchs nicht, das Nephritszepter wurde trüb, die Skorpione bissen die kleinen Kinder, und zum Schluß kamen die Bürgerkriege der Fünf Dynastien. Es war aber



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